Pressemitteilung
Die tiefgekühlte fliegende Untertasse
ALMA findet unerwartet kalte Staubkörner in planetenbildender Scheibe
3. Februar 2016
Mit den ALMA- und IRAM-Radioteleskopen konnte ein Astronomenteam mit Beteiligung vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg erstmals die Temperatur großer Staubkörner in den Außenbereichen einer Scheibe um einen jungen Stern messen, in der Planeten entstehen. Mit einer neuen Technik für die Beobachtungen des Objektes mit dem Spitznamen „Die fliegende Untertasse“ fanden sie heraus, dass die Körner deutlich kälter sind als erwartet: –266 Grad Celsius. Dieses überraschende Ergebnis legt nahe, dass Modelle, die solche Scheiben beschreiben sollen, vermutlich überarbeitet werden müssen.
Das internationale Team unter der Leitung von Stephane Guilloteau am Laboratoire d'Astrophysique de Bordeaux in Frankreich maß die Temperatur großer Staubkörner um den jungen Stern 2MASS J16281370-2431391 in der beeindruckenden Rho Ophiuchi-Sternentstehungsregion, die etwa 400 Lichtjahre von der Erde entfernt ist.
Der Stern ist umgeben von einer Scheibe aus Gas und Staub – solche Scheiben werden als protoplanetare Scheiben bezeichnet, da sie eine frühe Phase in der Entstehung von Planetensystemen darstellen. Diese außergewöhnliche Scheibe ist fast vollständig von der Seite zu sehen, weshalb ihre Erscheinung auf Bildern im sichtbaren Licht dazu geführt hat, dass sie den Spitznamen Fliegende Untertasse bekommen hat.
Die Astronomen beobachteten mit ALMA das Leuchten, dass von Kohlenstoffmonoxid-Molekülen in der Scheibe von 2MASS J16281370-2431391 stammt. Sie schafften es, sehr scharfe Bilder zu erstellen und fanden etwas Seltsames – in manchen Fällen beobachteten sie ein "negatives" Signal! Eigentlich ist soetwas physikalisch unmöglich, aber in diesem Fall gibt es eine einfache Erklärung, die zu einer überraschenden Schlussfolgerung führt.
Stephane Guilloteau, der Erstautor des Fachartikels, in dem die Ergebnisse beschrieben werden, erläutert die Zusammenhänge: „Diese Scheibe sehen wir nicht vor dem Hintergrund eines schwarzen und leeren Nachthimmels. Stattdessen sind ihre Umrisse vor dem leuchtenden Rho-Ophiuchi-Nebel zu sehen. Dieses diffuse Leuchten ist räumlich zu weit ausgedehnt, um vom ALMA erfasst zu werden, aber die Scheibe absorbiert es. Das daraus resultierende negative Signal bedeutet, dass Teile der Scheibe kälter als der Hintergrund sind. Die Erde befindet sich buchstäblich im Schatten der fliegenden Untertasse!“
Das Team kombinierte die ALMA-Messungen der Scheibe mit Beobachtungen des Hintergrundleuchtens, die mit dem 30-Meter-IRAM-Teleskop in Spanien durchgeführt wurden [1]. Sie berechneten für die Staubkörner in der Scheibe eine Temperatur von gerade einmal –266 Grad Celsius (nur 7 Grad über dem absoluten Nullpunkt oder 7 Kelvin) in einer Entfernung von etwa 15 Milliarden Kilometer vom Zentralstern [2]. Dabei handelt es sich um die erste direkte Messung der Temperatur großer Staubkörner (mit einer Größe von etwa einem Millimeter) in solchen Objekten.
Diese Temperatur ist deutlich niedriger als die –258 bis –253 Grad Celsius (15 bis 20 Kelvin), die von den meisten derzeitigen Modellen vorhergesagt wird. Um die Diskrepanz zu erklären, müssen die großen Staubkörner andere Eigenschaften besitzen als gegenwärtig angenommen, damit sie in der Lage sind, auf solch niedrige Temperaturen heruntergekühlt zu werden.
„Um die Bedeutung der Entdeckung für die Struktur solcher Scheiben zu verstehen, müssen wir herausfinden, welche plausiblen Staubeigenschaften dazu führen, dass solch niedrige Temperaturen erreicht werden. Wir haben einige Ideen – zum Beispiel, dass die Temperatur von der Größe der Körner abhängen könnte, wobei größere Körner kälter sind als kleinere. Aber es ist noch zu früh, um das genau zu wissen“, fügt Koautor Emmanuel di Folco vom Laboratoire d'Astrophysique de Bordeaux hinzu.
Wenn sich herausstellt, dass niedrige Temperaturen der Körner eine normale Eigenschaft protoplanetarer Scheiben darstellen, könnte das viele Auswirkungen auf unser Verständnis darüber haben, wie sie entstehen und sich entwickeln.
Zum Beispiel würden unterschiedliche Staubeigenschaften einen Einfluss darauf haben, was passiert, wenn diese Teilchen kollidieren und somit auch darauf, inwiefern aus ihnen Planeten entstehen können. Ob die erforderliche Änderung der Staubeigenschaften diesbezüglich bedeutsam ist oder nicht, kann noch nicht abgeschätzt werden.
Niedrigere Staubtemperaturen können auch einen großen Einfluss auf die kleineren staubhaltigen Scheiben haben, deren Existenz bekannt ist. Wenn diese Scheiben weitestgehend aus größeren, aber kälteren Körnern bestehen, als bisher angenommen, würde das bedeuten, dass diese dichten Scheiben beliebig massereich sein können, sodass Riesenplaneten vergleichsweise nah am Zentralstern entstehen könnten.
Zwar sind noch weitere Beobachtungen notwendig, aber es scheint, dass der kältere Staub, der von ALMA entdeckt wurde, einen großen Einfluss auf das Verständnis von protoplanetaren Scheiben hat.
Endnoten
[1] Die IRAM-Messungen waren notwendig, da ALMA selbst nicht empfindlich genug für das räumlich breite Signal aus dem Hintergrund war.
[2] Dies entspricht einhundert Mal der Entfernung zwischen Erde und Sonne. In dieser Region befindet sich heute im Sonnensystem der Kuiper-Gürtel.
Weitere Informationen
Die hier präsentierten Forschungsergebnisse von S. Guilloteau et al. sind unter dem Titel „The shadow of the Flying Saucer: A very low temperature for large dust grains” in der Fachzeitschrift Astronomy & Astrophysics Letters erschienen.
Die beteiligten Wissenschaftler sind S. Guilloteau (University of Bordeaux/CNRS, Floirac, Frankreich), V. Piétu (IRAM, Saint Martin d’Hères, Frankreich), E. Chapillon (University of Bordeaux/CNRS; IRAM), E. Di Folco (University of Bordeaux/CNRS), A. Dutrey (University of Bordeaux/CNRS), T. Henning (Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg, [MPIA]), D. Semenov (MPIA), T. Birnstiel (MPIA) and N. Grosso (Observatoire Astronomique de Strasbourg, Frankreich).
Das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) ist eine internationale astronomische Einrichtung, die gemeinsam von Europa, Nordamerika und Ostasien in Zusammenarbeit mit der Republik Chile getragen wird. Von europäischer Seite aus wird ALMA über die Europäische Südsternwarte (ESO) finanziert, in Nordamerika von der National Science Foundation (NSF) der USA in Zusammenarbeit mit dem kanadischen National Research Council (NRC) und dem taiwanesischen National Science Council (NSC), und in Ostasien von den japanischen National Institutes of Natural Sciences (NINS) in Kooperation mit der Academia Sinica (AS) in Taiwan. Bei Entwicklung, Aufbau und Betrieb ist die ESO federführend für den europäischen Beitrag, das National Radio Astronomy Observatory (NRAO), das seinerseits von Associated Universities, Inc. (AUI) betrieben wird, für den nordamerikanischen Beitrag und das National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) für den ostasiatischen Beitrag. Dem Joint ALMA Observatory (JAO) obliegt die übergreifende Projektleitung für den Aufbau, die Inbetriebnahme und den Beobachtungsbetrieb von ALMA.
Das Institut de Radio Astronomie Millimétrique (IRAM) wird durch INSU/CNRS (Frankreich), die MPG (Deutschland) und IGN (Spanien) unterstützt.
Die Europäische Südsternwarte (engl. European Southern Observatory, kurz ESO) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch 16 Länder: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz und die Tschechische Republik. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO verfügt über drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Chile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist einer der Hauptpartner bei ALMA, dem größten astronomischen Projekt überhaupt. Auf dem Cerro Armazones unweit des Paranal errichtet die ESO zur Zeit das European Extremely Large Telescope (E-ELT) mit 39 Metern Durchmesser, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird.
Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsländern (und einigen weiteren Staaten) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.
Links
Kontaktinformationen
Stephane Guilloteau
Laboratoire d'Astrophysique de Bordeaux
Floirac, France
E-Mail: stephane.guilloteau@u-bordeaux.fr
Emmanuel di Folco
Laboratoire d'Astrophysique de Bordeaux
Floirac, France
E-Mail: emmanuel.di-folco@u-bordeaux.fr
Vincent Pietu
IRAM
Grenoble, France
E-Mail: pietu@iram.fr
Richard Hook
ESO Public Information Officer
Garching bei München, Germany
Tel: +49 89 3200 6655
Mobil: +49 151 1537 3591
E-Mail: rhook@eso.org
Peter Habison (Pressekontakt Österreich)
ESO Science Outreach Network
und stem & mint e.U. – Space and Science Communications
Vienna, Austria
Tel: +43 676 648 7003
E-Mail: eson-austria@eso.org
Über die Pressemitteilung
Pressemitteilung Nr.: | eso1604de-at |
Name: | 2MASS J16281370-2431391 |
Typ: | Milky Way : Star : Circumstellar Material : Disk : Protoplanetary |
Facility: | Atacama Large Millimeter/submillimeter Array |
Science data: | 2016A&A...586L...1G |
Our use of Cookies
We use cookies that are essential for accessing our websites and using our services. We also use cookies to analyse, measure and improve our websites’ performance, to enable content sharing via social media and to display media content hosted on third-party platforms.
ESO Cookies Policy
The European Organisation for Astronomical Research in the Southern Hemisphere (ESO) is the pre-eminent intergovernmental science and technology organisation in astronomy. It carries out an ambitious programme focused on the design, construction and operation of powerful ground-based observing facilities for astronomy.
This Cookies Policy is intended to provide clarity by outlining the cookies used on the ESO public websites, their functions, the options you have for controlling them, and the ways you can contact us for additional details.
What are cookies?
Cookies are small pieces of data stored on your device by websites you visit. They serve various purposes, such as remembering login credentials and preferences and enhance your browsing experience.
Categories of cookies we use
Essential cookies (always active): These cookies are strictly necessary for the proper functioning of our website. Without these cookies, the website cannot operate correctly, and certain services, such as logging in or accessing secure areas, may not be available; because they are essential for the website’s operation, they cannot be disabled.
Functional Cookies: These cookies enhance your browsing experience by enabling additional features and personalization, such as remembering your preferences and settings. While not strictly necessary for the website to function, they improve usability and convenience; these cookies are only placed if you provide your consent.
Analytics cookies: These cookies collect information about how visitors interact with our website, such as which pages are visited most often and how users navigate the site. This data helps us improve website performance, optimize content, and enhance the user experience; these cookies are only placed if you provide your consent. We use the following analytics cookies.
Matomo Cookies:
This website uses Matomo (formerly Piwik), an open source software which enables the statistical analysis of website visits. Matomo uses cookies (text files) which are saved on your computer and which allow us to analyze how you use our website. The website user information generated by the cookies will only be saved on the servers of our IT Department. We use this information to analyze www.eso.org visits and to prepare reports on website activities. These data will not be disclosed to third parties.
On behalf of ESO, Matomo will use this information for the purpose of evaluating your use of the website, compiling reports on website activity and providing other services relating to website activity and internet usage.
Matomo cookies settings:
Additional Third-party cookies on ESO websites: some of our pages display content from external providers, e.g. YouTube.
Such third-party services are outside of ESO control and may, at any time, change their terms of service, use of cookies, etc.
YouTube: Some videos on the ESO website are embedded from ESO’s official YouTube channel. We have enabled YouTube’s privacy-enhanced mode, meaning that no cookies are set unless the user actively clicks on the video to play it. Additionally, in this mode, YouTube does not store any personally identifiable cookie data for embedded video playbacks. For more details, please refer to YouTube’s embedding videos information page.
Cookies can also be classified based on the following elements.
Regarding the domain, there are:
- First-party cookies, set by the website you are currently visiting. They are stored by the same domain that you are browsing and are used to enhance your experience on that site;
- Third-party cookies, set by a domain other than the one you are currently visiting.
As for their duration, cookies can be:
- Browser-session cookies, which are deleted when the user closes the browser;
- Stored cookies, which stay on the user's device for a predetermined period of time.
How to manage cookies
Cookie settings: You can modify your cookie choices for the ESO webpages at any time by clicking on the link Cookie settings at the bottom of any page.
In your browser: If you wish to delete cookies or instruct your browser to delete or block cookies by default, please visit the help pages of your browser:
Please be aware that if you delete or decline cookies, certain functionalities of our website may be not be available and your browsing experience may be affected.
You can set most browsers to prevent any cookies being placed on your device, but you may then have to manually adjust some preferences every time you visit a site/page. And some services and functionalities may not work properly at all (e.g. profile logging-in, shop check out).
Updates to the ESO Cookies Policy
The ESO Cookies Policy may be subject to future updates, which will be made available on this page.
Additional information
For any queries related to cookies, please contact: pdprATesoDOTorg.
As ESO public webpages are managed by our Department of Communication, your questions will be dealt with the support of the said Department.